Wie wir anders glücklich wurden

Ich sitze im Arztsprechzimmer der Neonatal- und Kinderintensiv-Station, auf der seit zwei Tagen mein Neugeborenes liegt, und versuche, gegen den fetten Kloß in meinem Hals anzuschlucken. Irgendwo in mir regt sich die vage Hoffnung, dass das doch alles nur ein Alptraum ist, aus dem ich gleich aufwache. Aber geschlafen habe ich schon länger nicht mehr richtig.

Die letzten zwei Nächte habe ich auf der Wöchnerinnenstation verbracht, obwohl ich mich zu Hause wesentlich besser von der Geburt hätte erholen können. Aber ich wollte wenigstens in der Nähe meines Kindes sein, das ich bisher erst einen winzigen Moment und dick eingewickelt im Arm halten und ansonsten nur durch die Öffnungen im Wärmebett streicheln durfte.

Alle paar Stunden pumpe ich Milch ab, die allmählich mehr wird. Aber an Stillen ist überhaupt nicht zu denken, nicht mal ein Fläschchen kann ich meinem Kind geben, denn es schluckt nicht.

Vor zwei Tagen kam unsere Tochter nach einer Bilderbuchschwangerschaft termingerecht bei einer Wassergeburt im Geburtshaus zur Welt. Es war alles wunderschön, bis zu dem Moment, als sie leblos und grau ins Wasser glitt und wir feststellten, dass sie nicht atmete, geschweige denn schrie. (Richtig geschrien hat sie auch später nie.)

Jetzt sitze ich hier, und der Oberarzt  hat mir gerade eröffnet, dass dieser Sauerstoffmangel bei der Geburt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ohne Folgen geblieben ist und mein Kind schwere Gehirnschäden davongetragen haben könnte. Ich müsse mich darauf einstellen, dass sie schwerst behindert sein würde. Ich sah ein Kind vor mir, das nur daliegt, nichts kann und nichts mitkriegt. Ihr Leben zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hatte. Das Schlimmste, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Das dachte ich damals.

Mein Mann war bei diesem Gespräch nicht dabei. Ich weiß noch, dass ich damals dachte: „Diese Nachricht verkraftet er nicht! Er hat sich so auf unser Kind gefreut…“

Wie sich herausstellte, wusste er es schon. Offenbar war ich diejenige, die man mit dieser Wahrheit noch verschont hatte. Und er hat es verkraftet, und ich auch.

Aufgeben war natürlich sowieso keine Option. Wir haben einfach immer weitergemacht, anfangs wie ferngesteuert, sind wir acht Wochen lang jeden Tag den weiten Weg in diese Klinik gefahren, denn mehr als zwei Nächte konnte ich nicht dort bleiben.

Aber wir haben von Anfang an an unser Kind geglaubt, daran, dass es, entgegen der Meinung der Ärzte, doch zumindest was im Kopf hat, womit wir Recht behalten sollten.

Heute ist unsere Tochter vier Jahre alt und körperlich stark eingeschränkt. Sie kann sich nicht aus eigener Kraft aufrecht halten und infolgedessen nicht ohne Unterstützung sitzen, stehen oder gar laufen. Sie kann ihre Hände kaum steuern, weshalb sie nicht gezielt greifen und quasi nichts selbständig machen kann. Sie kann nicht schlucken und wird immer noch über eine Magensonde ernährt, und sie kann nicht sprechen, was auch ein rein motorisches Problem ist, denn sie versteht alles und ist ein sehr aufgewecktes, lebensfrohes Mädchen. Sie hat einen Sprachcomputer, den sie mit den Augen bedienen und so schon Zweiwortsätze wie „Kleidung an“ oder „Licht aus“ sagen kann.

Trotz ihrer schweren körperlichen Beeinträchtigungen ist sie weit entfernt von dem Schreckensszenario, das ich bei jenem ersten Gespräch mit dem Oberarzt vor Augen hatte. Wir sind eine glückliche kleine Familie – vielleicht mehr als andere.

Aber das kam natürlich nicht von heute auf morgen. Von jener ersten Kenntnis an begann für uns Eltern ein langer Prozess der Verarbeitung, bei dem wir verschiedene Phasen durchliefen.

Loslassen

Die ersten Tage nach dieser zutiefst erschütternden Nachricht waren für mich geprägt vom Abschiednehmen von allen möglichen Vorstellungen, Erwartungen und Träumen.

Ich musste mich nicht nur von dem Wunsch verabschieden, mein Kind nach der Geburt auf den Bauch gelegt zu bekommen, ihm jemals die Brust oder auch nur ein Fläschchen geben zu können, sondern auch davon, dass es einmal ohne Hilfe würde laufen können, angeblich auch davon, dass es je eine Schule besuchen würde.

Es war eine lange Zeit, in der mir immer und immer wieder schmerzhaft bewusst wurde: das wird sie auch nie können, jenes werden wir mit ihr nie machen können.

Nicht jedes Kind wird einmal Abitur machen, studieren oder irgendein besonderes Talent entwickeln und große Erfolge erzielen, und das ist auch kein Weltuntergang. Aber träumen nicht alle Eltern ein bisschen, was die Zukunft ihres Neugeborenen angeht? Der Unterschied ist, dass wir uns von so ziemlich allen Träumen auf einmal verabschieden mussten. Andere Eltern müssen das nur teilweise und nur nach und nach.

Damals war ich weit davon entfernt, irgendetwas bewusst zu machen, aber offenbar wendete ich ganz instinktiv die Strategie an, mit der ich bisher durch jede Krise in meinem Leben gekommen bin: Ich trauere dem, was ich hinter mir lassen muss, nicht lange nach, sondern schließe, nach einem schmerzhaften Abschied, damit ab.

Auf Gedanken der Art, „Was wäre gewesen, wenn…“, lasse ich mich kaum ein. Genauso wenig wie auf Fragen, was in fernerer Zukunft einmal sein wird. Beides bringt nicht besonders viel. Das scheint ein Schutzmechanismus zu sein, den ich mir irgendwann mal zugelegt habe, ohne dass es eine bewusste Entscheidung war.

Schließt sich eine Tür in meinem Leben, finde ich meist ganz schnell eine oder mehrere, die sich öffnen. Und anstatt auf die geschlossenen Türen hinter mir zu starren, wende ich mich denen zu, die sich vielleicht neu geöffnet haben, oder die ich erst jetzt wahrnehme.

Und meistens fallen mir sogar negative Dinge hinter der verschlossenen Tür ein, mit denen ich mich jetzt nicht mehr herumschlagen muss.

Das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn gerade die Möglichkeit eines gesunden Kindes ohne körperliche Einschränkungen für immer in unerreichbare Ferne gerückt ist. Aber tatsächlich sind mir sogar hier Sachen eingefallen, die meinem Kind erspart bleiben, etwa der Leistungsdruck, unter dem viele Kinder und Jugendliche heute stehen.

Ich gehöre noch einer Generation an, die gelernt hat, zu verzichten, und es gibt Situationen, in denen das hilft, nämlich die, an denen man definitiv nichts ändern kann. Die Kunst ist, zwischen veränderbaren und unveränderbaren Situationen zu unterscheiden.

Schließt sich eine Tür, öffnet sich eine andere

Hoffnung

Ärzte sind einem beim Loslassen leider oft auf sehr unsanfte Art behilflich, indem sie gnadenlos den Blick auf die Defizite des Kindes lenken und einem gern jede Hoffnung rauben, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wird.

Dabei finde ich Hoffnung so wichtig, um überhaupt weiterzumachen oder zumindest einen Sinn darin zu sehen. Warum sonst sollten wir mit unserem Kind sechsmal die Woche zu Physio, Logo, Ergo und Frühförderung gehen, Therapieprogramme mit ihr durchziehen und üben, üben, üben, wenn wir gar keine Hoffnung hätten, dass sich etwas bessert?

Dann wieder gibt es Menschen, die ihre Hoffnungen etwas zu hoch stecken. Wir werden heute noch manchmal gefragt, ob unsere Tochter denn irgendwann laufen können wird. Die Menschen, die das fragen, meinen tatsächlich: ohne Hilfe, den natürlich kann sie jetzt schon mit einem Speziallaufrad oder einem Gehgerät „laufen“.

Ich weiß nie, was ich auf solche Fragen antworten soll. Irrwitzigerweise habe ich das Gefühl, diese Außenstehenden trösten zu müssen und rede um den heißen Brei herum, anstatt einfach zu sagen: nein, wird sie nicht.

Diese übertriebenen Hoffnungen ziehen einen eigentlich auch immer wieder runter. In den ersten ein, zwei Jahren, als wir selbst noch die vage Hoffnung hatten, dass sich Lenchens Entwicklung einfach nur etwas verzögert, kamen solche Fragen noch viel öfter.

Wenn wir stolz erzählten, dass sie tolle Fortschritte mache, bedeutete das meistens, dass sie sich jetzt allein vom Bauch auf den Rücken dreht, den Kopf  minimal besser hält oder auch, dass sie kognitiv die nächste Stufe erklommen hat, was zu unserem Glück wirklich stetig der Fall war. Wenn dann Fragen kamen wie „Kann sie denn jetzt krabbeln?“, auf die man nur eine „enttäuschende“ Antwort geben konnte, waren wir ganz schnell in unserer Euphorie ausgebremst

Wenn ich mir nur eine Fähigkeit für meine Tochter wünschen könnte, würde ich ohne lang zu überlegen das Sprechen wählen. Trotzdem setze ich meine Hoffnung lieber in die Möglichkeit, die sie realistischerweise hat, nämlich mit einem Computer mittels Augensteuerung sprechen zu lernen. Für diese Technologie bin ich so dankbar, denn sie ist nicht nur die einzige Möglichkeit, sich zu verständigen, für mein Kind, das nicht einmal in der Lage ist, mit den Händen ein Feld auf einem Bildschirm auszuwählen, sondern wirkt auch noch ungemein zukunftsweisend. Wenn sie das beherrscht, steht sie Steven Hawkings quasi in nichts mehr nach!

Das ist ein weiterer wichtiger Pfeiler der Resilienz unserer Familie: unser Humor, der auch vor scheinbaren Tabus nicht haltmacht.

Akzeptanz

Was mir bei manchen Familien auffällt, ist, dass der Fokus sehr auf der Behinderung des Kindes, und vor allem dem „Dagegenwirken“ liegt. Es wird geübt, geübt und nochmals geübt.

Wenn andere Kinder Fortschritte machten, von denen wir bei unserem Kind nur träumen konnten, machte ich mir oft Vorwürfe, dass ich nicht genug übte. Was Quatsch ist, denn kein Kind ist wie das andere. Das gilt noch viel mehr bei Kindern mit „Zerebralparese“, also Gehirnschädigungen mit unterschiedlichen Ursachen und unterschiedlichen Ausmaßes.

Wir üben auch mit unserer Tochter und nehmen viele Angebote in Anspruch, wo Profis mit ihr üben. Sie hat viele Baustellen, und würden wir alles machen, was wir EIGENTLICH müssten, kämen wir zu nichts anderem mehr, vor allem nicht dazu, dass unser Kind auch einfach mal Kind sein darf, wie jedes andere Vierjährige auch. Wir unternehmen viel, sind viel unterwegs, zu Fuß oder mit dem Rad, in der Natur, in Städten oder anderen Ländern. Wenn nicht gerade Corona ist, gehen wir schwimmen, in den Tierpark, ins Restaurant oder Café. Unsere Tochter ist gern unter Menschen, beobachtet alles und hat Spaß dabei. Sie liebt Körpererfahrungen wie schwimmen, rutschen, toben, auf einer Wiese herumkullern.

Wie uns der Oberarzt damals auch erklärt hat, trägt jede neue Erfahrung nicht zuletzt dazu bei, dass im Gehirn Synapsen wachsen und sich Gehirnzellen regenerieren oder die Funktion von zerstörten Zellen übernehmen. Aber was wir noch viel wichtiger finden: es trägt ungemein zur Lebensfreude bei! Und die ist für uns mindestens genauso wichtig wie den Kopf halten oder einen Fuß vor den anderen setzen zu können.

Im Prinzip haben wir uns damit abgefunden, dass sich am körperlichen Status quo unserer Tochter nicht allzu Bahnbrechendes mehr ändern wird. Das soll aber nicht heißen, dass wir sie aufgegeben hätten, sondern ganz im Gegenteil. Sie ist wie sie ist. Und so darf sie jetzt Kind sein und Freude am Leben haben, und nicht erst, wenn wir sie so lange beturnt und beübt haben, bis sie irgendeinem Optimum entspricht, das sie niemals erreichen kann.

Aber auch das mit der Akzeptanz kam keinesfalls über Nacht. Es hat lange gedauert, über ein Jahr, bis wir in Zusammenhang mit ihr das Wort „Behinderung“ überhaupt in den Mund genommen haben. Wir wollten noch nicht wahrhaben, dass unser Kind behindert war und bleiben würde. Wir freuen uns heute noch über jeden kleinen Fortschritt, aber er bedeutet eben nur einen kleinen Fortschritt, und nicht einen Schritt zur nicht-Behinderung.

Dankbarkeit

Einer der größten Fehler, die man in Bezug auf das eigene Kind – oder auch auf sich selbst – machen kann, ist vergleichen. In den ersten ein, zwei Jahren ist mir das immer wieder ganz unbewusst passiert, und es hat mich jedes Mal verdammt runtergezogen.

Ich konnte anderen Kindern eigentlich gar nicht mehr unbeschwert begegnen, weil gefühlt jedes mehr konnte als meines. Ich fürchtete schon, als verbitterte alte Schachtel zu enden, für die man selbst als Kind so wenig Verständnis hatte. Am allerschlimmsten war es im ersten halben Jahr, als meine Tochter noch nicht einmal lächelte und wir natürlich nicht wussten, ob sie es je können würde. Schon jedes Lächeln eines anderen Kindes war ein Stich in mein Herz. Fröhliche Familien, herumtobende, rufende Kinder: ich konnte sie nicht ertragen.

Als meine Tochter dann endlich nicht nur selbst lächelte, sondern auch mehr und mehr das Versäumte mit ihrer Fröhlichkeit nachzuholen schien, legte sich das zwar etwas, aber immer noch gab es Situationen – an einem Karussell oder einem Rodelberg voller Kinder – in denen mich das schmerzliche Bewusstsein übermannte, was mein Kind alles NICHT konnte. So viele Dinge, die für ein Kind selbstverständlich sein sollten.

Vergleiche, bei denen mein Kind besser abschnitt, erlebte ich hin und wieder bei Klinikaufenthalten, aber in ganz geballter Ladung, als meine Tochter zweieinhalb war und wir zum ersten Mal zu einem Therapieblock in einer Rehaklinik in Bayern waren. Hier haben fast alle Kinder irgendeine Gehirnschädigung oder sonstige Behinderung, manchmal auch erst durch einen dummen Unfall oder eine Erkrankung im Lauf des Lebens erworben. Und es gibt eine Intensivstation, auf der die ganz schweren Fälle liegen. Kinder, die rund um die Uhr beatmet werden müssen, die nur liegen können, die sich noch weniger bewegen können als unseres, die geistig quasi nicht am Leben teilnehmen. Selten sieht man sie draußen auf dem Klinikgelände, und dann mit der Ausrüstung einer halben Pflegestation im Schlepptau.

Bei diesem Aufenthalt lernte ich wirklich dankbar zu sein für alles, was meine Tochter kann und erleben darf und dass wir trotz allem so viel mit ihr unternehmen können. Wir fahren mit dem Wohnwagen in Urlaub, sind viel in der Natur oder in interessanten Städten unterwegs. Zwar haben wir auch immer etwas mehr Gepäck dabei, einschließlich ihres Sondenzubehörs und ausreichend pürierter Nahrung, und es wird zunehmend schwierig, eine Wickelgelegenheit zu finden, aber es geht immer irgendwie, und notfalls könnte man ihr auch mal ein Babygläschen geben oder in einem Restaurant fragen, ob man etwas püriert bekommt. Andere würden es vielleicht auch in unserer Situation vorziehen, zu Hause zu bleiben und kein Risiko einzugehen, aber das Leben birgt immer ein gewisses Risiko, und wir glauben, dass unsere Tochter sich nicht zuletzt deswegen geistig so gut entwickelt, weil sie so viele schöne und spannende Dinge erleben darf.

Austausch

Wenn es um das Thema Resilienz geht, ist es besonders schwer, Ratschläge zu geben, die anderen wirklich nützen. Letztendlich muss jeder für sich herausfinden, was ihm hilft, was ihn stark und glücklich macht und welcher Weg der richtige für ihn ist.

Was ich Eltern eines besonderen Kindes, für die die Situation vielleicht noch neu ist, aber auf jeden Fall raten kann, ist, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.

Uns hat diese Möglichkeit am Anfang gefehlt. Keiner hat uns gesagt, wo wir Leidensgenossen finden. Eine Schwester sagte etwas von „rehakids“ einem sehr großen Internetforum, wo mir zwar viele Fragen beantwortet wurden, die ich am Anfang hatte, und ich überhaupt erst mal verstand, was bei meinem Kind los war und dass so etwas gar nicht so selten vorkommt. Aber abgesehen von einem einzigen, persönlichen Kontakt, der heute noch besteht, kam kein wirklicher Austausch zustande. Mir war dieses Forum einfach zu groß, zu unübersichtlich und dadurch auch zu unpersönlich.

Nach zwei Jahren gründete ich eine Selbsthilfegruppe für Eltern besonderer Kinder, und auch wenn Treffen unregelmäßig oder pandemiebedingt gar nicht stattfinden, stehen wir ständig im Austausch über WhatsApp.

Und schließlich rief ich vor einem Jahr meinen Blog anders-gluecklich.de ins Leben, in dem ich aus der Perspektive meiner Tochter aus ihrem Alltag erzähle. Damit möchte ich zum einen natürlich einen Beitrag zur Inklusion leisten, nicht zuletzt im Interesse meiner Tochter, aber zum anderen auch Eltern auffangen, die in der Situation sind, wie wir damals, und ihnen mehr als nur einen Strohhalm geben, an den sie sich klammern können.

Der intensivste Austausch mit Eltern von Kindern, die ähnliche Baustellen wie meines haben, kam jedoch vor allem durch Aufenthalte in der Rehaklinik zustande. So anstrengend diese Aufenthalte für mich als Mama sind, ist das ein großer Vorteil, denn man erlebt die anderen Kinder und deren Alltag live und über einen längeren Zeitraum und bekommt wahnsinnig viel Input und Anregungen für sich und das eigene Kind.

Sehr positiv überrascht war ich auch von Instagram. Ich meldete mich eigentlich sehr halb motiviert dort an, weil ich überzeugt war, dass diese Hochglanz-Selbstoptimierungs-Plattform keinen Raum für Menschen mit Behinderungen bietet. Weit gefehlt! Es gibt dort jede Menge Accounts über Kinder – und auch von Erwachsenen – mit Behinderungen. Und es ist wichtig, diese Menschen und Kinder genauso zu zeigen wie andere, um sie sichtbar zu machen, um aufzuklären und um zu begreifen: wir sind nicht allein, da draußen gibt es viele solche Kinder und Eltern mit den gleichen Problemen und Sorgen.

Glaube – an wen oder was auch immer

Im ersten Lebensjahr meiner Tochter war ich besonders empfänglich für den Glauben – an was auch immer. Nie zuvor und nie danach habe ich so viel gebetet, oder überhaupt gebetet, als wollte ich mich an jede noch so kleine Hoffnung klammern. Schaden konnte es schließlich nicht.

Mein „Glaube“ ist eher eine Art Urvertrauen, dass es irgendeine höhere Instanz gibt, die – sehr langfristig betrachtet – für so was wie Gerechtigkeit sorgt. Und daran wollte ich glauben. Daran, dass alles irgendwie einen Sinn ergibt, auch wenn wir ihn nicht immer gleich begreifen, und er sich vielleicht auch nicht innerhalb unseres kleinen, unbedeutenden Lebens erschließt.

Einen Sinn darin zu sehen, dass das Leben eines unschuldigen Kindes bereits vorbei ist, ehe es überhaupt zu leben begonnen hat (das war natürlich nur meine damalige Sicht), fiel mir verdammt schwer. Das war der Hauptgrund, warum ich anfing zu beten, um eine Antwort auf dieses „Warum“ zu bekommen. Warum mein Kind? Ist das eine Strafe, und wenn ja, wofür?

Und bekam ich eine Antwort? Wenn ich jetzt darüber nachdenke: ja. Weil ich etwas begriffen habe, nämlich, dass weder das Leben meiner Tochter noch das unsere vorbei ist. Es gibt neben der vollen Funktionsfähigkeit des Körpers noch so viele andere Dinge, die einen Menschen und ein erfülltes Leben ausmachen. Und mit ihrer unbändigen Lebensfreude zeigt unsere Tochter uns das jeden Tag und steckt uns mit ihrem Optimismus an. Ich kenne kein fröhlicheres und genügsameres Kind.

Ich habe wieder zu meinem Glauben gefunden, dass alles irgendwie gut ist, wie es ist. Aber vor allem glaube ich an eines: meine Tochter wird ihren Weg machen, denn sie ist wahnsinnig ehrgeizig, eine kleine Kämpferin mit starkem Willen.

Sind wir wirklich glücklich?

Es gibt keinen Anspruch darauf, dass im Leben immer alles glattläuft. Das wäre auch gar nicht erstrebenswert, weil es furchtbar langweilig wäre. Oder, wie der Aphoristiker Peter Hohl es ausdrückt: „Glück ist nicht die Abwesenheit von Schwierigkeiten, sondern deren Bewältigung. Die Abwesenheit von Schwierigkeiten nennt man Langeweile.“

Glück ist vor allem kein Dauerzustand. Aber wenn man einmal von seiner Erwartungshaltung losgelassen hat, den Status quo akzeptiert und gelernt hat, für kleine Erfolge dankbar zu sein und eine gewisse Hoffnung nicht aufzugeben und daran glaubt, dass alles irgendwie gut wird, dann wird man auch mehr und mehr Glücksmomente erleben.

Bei uns überwiegen sie die Enttäuschungen bei weitem, und das ist sicher zum Großteil einfach eine Einstellungssache.

Kurz nach der Geburt meiner Tochter konnte ich nicht verstehen, wie Leute mir DAZU gratulieren konnten.

Heute verstehe ich nicht, wie jemand, der mein Kind kennenlernt, es bemitleiden oder denken kann, dass sein Leben nicht lebenswert sei.

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